[issue 14] Kaffeeflecken
Auf Büchern, auf Blusen, auf Bordsteinkanten
Es gibt ungefähr eine einzige Sache, die ich an der Zeit um Weihnachten mag, und das ist die Redewendung “Zwischen den Jahren”. Ursprünglich meint sie die 12 bis 13 Tage, die sich Mond- und Sonnenkalender unterscheiden und so den Anfang des neuen Jahres vernebeln. Eigentlich aber beschreibt sie, für mich zumindest, einen Zustand, der auch an jedem anderen Datum eintreten kann. Ein Nebensich-, ein Zwischendenstühlenstehen. Ein halt-, sinn- und zeitloser Moment, in dem das Universum und alles in ihm und außerhalb egal ist, in dem man sich der ewigen Liminalität des Lebens bewusst wird und sie bestenfalls einfach akzeptieren darf.
»Gleite leicht durch die Jahreszahl’n
Leg deine Ahnung ins Gepäck«
Herbert Grönemeyer
In dieser letzten Ausgabe des Jahres freue ich mich besonders, eine neue Gästin in Das Hotel begrüßen zu dürfen! Smoggi liebt Obst und schreibt darüber manchmal Gedichte, wundervoll!
Marakuya
von Smoggi
ich fand einen Bach Glitzer verführt Rausch betört ich griff nach dem Gold Makel vermehrt Kanten schneiden ich trat in sie ein Füße glänzen Finger schrumpel ich ging ihren Fluss Dreck rutscht Silber reißt ich sehe mich nicht Tiefe grüßt
Fotoautomat
gestern wischte ich mit ruhe und eile zwischen meinen büchern und kistchen staub aus den seiten des alten tagebuchs das du mir schenktest und ich voll schrieb flatterte eine erinnerung briefmarkengroß zeigt sie uns schüchtern grinsend an einander vorbei unwirsch, vom blitz überrascht es war der tag der uns zusammenbrachte und die nacht die uns vereinte unsere seelen schweißte ins nichts die zeit goß kaffee über uns knickte uns bleichte uns dass ich uns kaum wiedererkenne zerknittert lag sie jahrelang zwischen den seiten des tagebuchs das du mir schenktest und ich mit dir voll schrieb wartend auf gestern
Fünf Lebenslinien
In Open City1 schreibt Teju Cole über seine Stadt wie kein zweiter. Julius, der Protagonist des Romans, reist auf der Suche nach seiner Familiengeschichte nach Berlin und Brüssel, vor allem aber läuft er tage-, wochen-, kapitellang durch New York. Auf seinen Streifzügen durch die Welt lernt er immer wieder Menschen kennen, die ihre faszinierenden Geschichten mit ihm teilen (oder auch nicht), diese flüchtigen Begegnungen geben dem Buch und Julius’ Schritten Puls und Rhythmus. Wenn er allein ist, in der U-Bahn, im Central Park oder zu Hause, hört er im Radio klassische Konzerte, über deren Magie er mit so bewundernswerter Hingabe erzählt, dass man sie spüren kann, obwohl man sie nicht hört. Eines Abends am Ende des Buches erfährt Julius im Klassikradio von einer Aufführung der Berliner Philharmoniker in der Carnegie Hall und kauft sich eines der letzten Tickets. Sie spielen Gustav Mahlers Neunte Symphonie und versetzen das Publikum in Ekstase, reißen Julius aus der Zeit. Seit Open City ist klassische Musik, und insbesondere jene von Mahler und Anton Bruckner für mich untrennbar verbunden mit metropolitaner Melancholie und Fluidität.
»Ich dachte daran, wie manchmal die Wolken über die sonnendurchfluteten Schluchten zwischen den steilen Fassaden der Wolkenkratzer jagen und die scharf gezogenen Grenzen zwischen Hell und Dunkel mit flüchtigen Schatten und jähem Lichteinfall sekundenlang verwischen.«
Teju Cole (Julius über Mahler)
Auch auf meinen alltäglichen Gängen durch die Großstadt habe ich nicht selten klassische Musik im Ohr. Ich liebe es, wenn mit den gefühlvollen, fast (melo)dramatischen Themen die nächtlichen Lichter am Busfenster entlangziehen oder sich mit dem Rattern der U-Bahn vereinen. In diesem, Bruckners 200. Geburtsjahr, hatte ich das große Glück, in gleich sechs Konzerten seine Symphonien in der Berliner Philharmonie erleben zu dürfen; Julius war jedes Mal mein stiller, warmherzig zuhörender Begleiter. Bruckners Musik hat auf mich eine enorme Wirkung. Er schafft es, den Pathos, der gerade symphonischen Werken quasi intrinsisch ist, mit herrlichem Humor zu durchbrechen — doch an wesentlichen Stellen entschieden wirken zu lassen. Seine Werke sind oft abstrakt und ungreifbar. Folgt man ihren Klängen, verliert man sich bald in ihnen, als biege man um eine falsche Straßenecke und wisse plötzlich nicht mehr, wo man ist. Doch dann erkennt man etwas Bekanntes wieder und kartiert sich neu. Oder man entdeckt etwas Unbekanntes, dem man nachgeht und auf einmal einen interessanten neuen Ort findet. Die lakonische Leichtigkeit des Hauptthemas seiner Siebten, beispielsweise, die sich zu keinem Zeitpunkt vom tiefen Schmerz der Bläser und des zweiten Satzes überschatten lässt, ist schlicht atemberaubend. Die Dialoge zwischen Horn und Flöte in der Fünften lassen das Herz weinen, die Streicher fangen die Tränen auf. Bis die Klarinette ein winziges, doch einzigartiges Motiv spielt — das kein zweites Mal ertönt. Dass Bruckner oftmals so viele Themen ausbreitet und bearbeitet, manche aber schon in sich so vollkommen sind, dass sie nie wiederholt werden sollen und sich doch tief ins Ohr nisten, macht seine Symphonien unsterblich. Sie sind wie die vielen flüchtigen Begegnungen, von denen Julius erzählt, die Menschen, die er vorbeiziehen lässt. Du darfst nie glauben, du kennst eine Bruckner-Symphonie, denn sie wird dich noch beim hundertsten Hören überraschen — so wie man auch eine Stadt wie New York, oder einen Menschen, niemals vollkommen kennenlernen kann.

Zu Teju Coles Buch Black Paper siehe Weekly #5 — Elegien / Das Leiden anderer betrachten.
Angeln gehen
seit monaten bin ich einsam gestrandet im indischen meer auf meiner suche nach den worten die ich dir sagen, schreiben würde wenn ich nur könnte erreichten dich meine in eiliger, ewiger bindung ausgesendeten fäden die briefe aus altem papier sahst du die fotos die ich ihnen nachsandte mit den kaffeeflecken drauf wenn du aufstehst gehe ich schlafen gehst du schlafen stehe ich auf so oft in gedanken an dich mit deinen bildern in den händen die du mir zurückließest bevor du gehen musstest um die welt aus ihren angeln zu heben
Und so endet die letzte Ausgabe DaDanke danke danke für eure Unterstützung und Begleitung. Ich liebe es, für euch zu schreiben! :) Kommt gut ins neue Jahr — wir wünschen uns alle das Beste.
Achso — und @whatnywears hat mein “Geheimnis” gelüftet, wie ich es einigermaßen durch den Winter schaffe:
Teju Cole: Open City. Übers. von Christine Richter-Nilsson. Berlin [2011] ⁴2016, 335 S. (Zitat unten: S. 321).





