Jedes Wetter ist Museumswetter. Diese Wahrheit musste ich erst begreifen, denn mit meiner Mutter ging ich zwar in meiner Kindheit oft in Ausstellungen, doch an sonnigen Tagen kostete es mich viel Überzeugungskraft und gelang mir nicht immer, sie zu einem Besuch zu überreden, denn für sie muss es regnen, um die Kunst richtig genießen zu können. Immerhin habe ich so schnell die wohlig-warme Atmosphäre kennengelernt, die sich in guten Galerien einem kuscheligen Bademantel gleich um mich legt. Als eher introvertierter Mensch musste ich erst nach den Räumen suchen, in denen ich mich trotz (potentiell) vieler fremder Menschen frei und bequem bewegen kann, und auch wenn Museumsbesuche an warmen Feiertagen weniger angenehm sind als an grauen Wochentagen, sind Kunsthallen definitiv solche Orte für mich.
Das erschreckende Gefühl, das mich überkommt, wenn ein Bild, das ich seit fünf Minuten betrachte, plötzlich zurückstarrt, mich spiegelt, mich erkennt, meinen Herzschlag aussetzt. Das vertraute Einandergrüßen mit Werken, zu denen ich immer wieder zurückkehre, die über die Jahre alte Freunde geworden sind. Die Choreographie der Unentschlossenheit, das Umeinanderherumtänzeln, um sich nicht im Blick zu stehen. Die Ehrfurcht vor dem Geist, das Sichbeobachtetfühlen, wahlweise von der Kunst an den glatten Wänden verschüchtert und von den Menschen vor, neben, hinter mir eingeengt. Vorsichtig tapsend, das peinliche Quietschen der Schuhe oder Knarzen der alten Dielen zu meiden. Wie sich auch die Betrachtungsgeschwindigkeiten angleichen, wie Herzschlag und Zyklus. Das heimliche Mithören der Diskussionen nebenan und das unbändige Bedürfnis, mich einzumischen. Wie sich ungewollt Präferenzen offenbaren (Lieber nicht zu lang vor Aktfotografien verweilen! Helmut Newton-Ausstellungen sollten generell besser allein besucht werden!), peinlich Fotos gemacht und nie wieder angesehen, hektisch Namen notiert und Notizen (und Tickets und Lagepläne und Flyer und Schließfachschlüssel) verloren werden. Wie es manchmal Wochen braucht, bis ich die Persönlichkeit einer Ausstellung begreife und mit einem Mal vermisse. Kleine Flirts, flüchtig, cute, mit jenen, die vor demselben Bild lange stehen bleiben.
Petrichor
drückende hitze bricht über mich herein bald schwemmen sie mich weg die dicken tränen des ersten warmen sommerregens
Ameise
Die Türen des Elternhauses gehen schwer. Die Schlüssel drehen sich nur unter Umständen und Widerstand in ihren Schlössern, die Scharniere knarzen und lassen die Türen schnell wieder zufallen, als hätten sie etwas dagegen, Einlass zu gewähren und ihr Inneres preiszugeben. Überhaupt liegt eine Schwere auf dem Haus und seinen Bewohnern, die jeden aufkeimenden Witz unmittelbar zurück zwischen die losen Dielen drückt, aus denen er hin und wieder emporgekrochen kommt. Jedes Jahr im Frühling, wenn die Blätter des Apfelbaums im Garten wachsen und seine Blüten langsam fallen, findet eine Ameisenkolonie Zugang über den Balkon zur gefliesten Küche des Hauses. Die Mutter stört sich arg an den ihr lästigen Tieren, die in einer schnurgeraden Linie eine Brücke zwischen Haus und Draußen schlagen wollen, und tritt sie tot und streut Giftpulver aus, doch völlig los wird sie sie nie. Nur die ohrenbetäubende Stille zwischen den dicken Mauern, das dröhnende Schweigen über allem und alles, was keinen Platz unter dem Dach des Hauses finden soll, erstickt selbst die Ameisen und im Sommer schon lebt nichts mehr.
Diese Schwere lag auch auf meiner Kindheit, seit ich denken kann trage ich ihren Schmerz in den Schultern. Auch ich sollte nie einen Platz unter dem Dach des Hauses finden, und jedes Gramm Leichtigkeit musste ich mir teuer erkaufen, bis ich den Preis dafür zu zahlen nicht mehr bereit war und mit den Ameisen die Brücke nach draußen schlug. Ich folgte ihrer Spur, bis ich ein neues Haus mit einem Platz für mich darin fand. In diesem meinem neuen Haus kriechen nun Kakerlaken aus den schimmligen Wänden, doch die Tür geht leicht und die Wände sind dünn, und ich heiße sie willkommen. »Bringt mir nur keine Krankheiten«, sage ich zu ihnen, »und bleibt fern von meinem Bett, und ihr könnt wohnen bei mir wie ihr wollt.« Und daran halten sie sich und so kommen wir aus. Auch sie sind Verstoßene, nebenan tritt man auf sie und holt den Kammerjäger, doch da ich sie zu kennen und verstehen glaube, schätze ich ihre Anwesenheit umso mehr, und die Luft ist gut und ein leichter Wind geht immer, der die Schwere endlich von mir weht.
Eine große meiner leidlich vielen Leidenschaften gilt bekanntlich der Fotografie. Nicht nur meinem eigenen Fotografieren, sondern insbesondere auch jenem derer, die es wirklich können. Der Blick anderer Menschen auf dieselbe und doch ganz eindeutig nicht die gleiche Welt wird für mich in keinem anderen Medium der Kunst so offenbar wie im technischen Bild — bewegt oder unbewegt, das ist bisweilen zweitrangig. Dokumentarfotograf*innen wie Mary Ellen Mark oder Susan Meiselas, die mit ihrer Arbeit künstlerisch wie gesellschaftlich wortwörtlich Geschichte schrieben, beeindrucken mich sehr. Doch hat ihre Kunst stets eine bewusste Agenda, einen Sinn, der klar zu umreißen und leicht zu verstehen ist. Anders verhält es sich in meinen Augen mit der Modefotografie: Schöne Menschen [hier bitte auf min. dreißig Seiten die Problematik des Wortes “schön” in künstlerischer/ gesellschaftlicher/ kulturgeschichtlicher/ politischer/ semiotischer/ etc Dimension diskutieren; ich habe gerade keine Lust dazu, tut mir leid; weiter im Text — also:] Schöne Menschen in schöner Kleidung zu portraitieren, deren einziger und umso ertragreicherer Beruf es ist, sich schön in schöner Kleidung portraitieren zu lassen, Kleidung, die oft weder besonders bequem noch besonders alltagstauglich zu sein scheint, an Orten, die Normalsterbliche niemals betreten könnten, noch dazu in dieser Kleidung — ihr ganzes Wesen ist so wunderbar wahnsinnig und zweckfrei, weltentrückt und vollkommen banal, dass sie mich immer und immer wieder in ihren Bann zieht. Selbst die Grundidee der Werbung, der Perversion des Konsums wirft sich nieder in den Goldstaub angesichts ihres einzigen, und als Daseinsberechtigung, ja -notwendigkeit! völlig ausreichenden Sinns: der reinen Ästhetik.
Vor einiger Zeit betrat ich, wie so oft, zu Beginn einer kleinen Reise eine Bahnhofsbuchhandlung. Meistens suche ich dort nicht nach Literatur, mein Interesse wird eher von den vielen (in den besser sortierten: unzähligen) Zeitungen und Magazinen geweckt, durch die ich gern blättere, ohne sie wirklich lesen zu wollen, weshalb sie meistens ungekauft in den schulterhohen Regalen liegen bleiben. Bei den Kunst- und Modezeitschriften verweile ich länger, oft jedoch mit ähnlichem Ergebnis — dieses Mal aber war es anders. An der Stirnseite eines dieser Regale fiel mein Blick auf drei Ausgaben des selben Magazins, das mit POP und “800+ pages” warb, und das ich bald darauf, zu einem vielversprechenden Impulskauf hingerissen, erwarb und die nächsten viereinhalb Stunden nicht mehr aus der Hand zu legen in der Lage war, denn so gut wie jede der versprochenen 800 Seiten ist gefüllt mit: ja, genau, Modefotografie. Im Gegensatz zum coffee table book verkörpert das Medium des Magazins perfekt die Flüchtigkeit und im Grunde Banalität seines Inhalts. Ein Modemagazin erhebt keinen ernsthaften Ewigkeitsanspruch, verzichtet auf schwere Leineneinbände und Schutzumschläge, sondern kleidet sich in schlichtes, labberiges, höchstens etwas festeres Papier, das bis zur nächsten Ausgabe wahrscheinlich zur Unbrauchbarkeit gerissen und zerknickt ist. Und das ist gut so, denn das macht ihren Charme aus. Eine Zeitschrift will ins Badewasser fallen, der Kaffee muss auf ihr seine Kreise ziehen, ihre schönsten Seiten reißen sich selbst heraus! Auf einer Zeitschrift soll schließlich die Schrift der Zeit lesbar werden.
»What I felt as I was writing that terrible poem and trying to write about what was around me – I felt more connected to the world than I’d ever felt at any time before that. The act of trying to write about what sourrounded me made me feel part of it.«
Paul Auster (bei Alles gesagt?)
Schwarzer Regen
fällt auf spröde Haut sickert hinaus in die Leere der gebrochenen Herzen
Monsters and Critics
Da ich in dieser Ausgabe schon einiges empfohlen habe, will ich nun etwas diese Rubrik kürzer halten und nur ein Album empfehlen, von dem ich mir kaum vorstellen kann, dass irgendjemand nicht von seiner Veröffentlichung vor zwei Wochen erfahren hat — was mich nicht beirren soll, denn es ist großartig.
Natürlich meine ich Billie Eilishs drittes Album Hit Me Hard And Soft, das wieder einmal die Grenzen ihres Œuvres und des Pops dehnt und wild zwischen den Sphären schwimmt. Schon das Cover öffnet die Tür, durch die wir lustvoll mit ihr hineinspringen in den dunkelblauen Ozean der Melancholie, uns treiben lassen durch ruhige Beats und den Hauch ihrer Stimme, klar wie der Nebel meiner Welt, die uns aber auch immer wieder aus dem Wasser springen lässt und so vor dem Ertrinken rettet. Es geht nicht nur, aber doch vordergründig um Liebe in allen Facetten, um das Verlieben und Entlieben und die Zeiten davor, dazwischen und danach, wenn das überhaupt so eindeutig zu trennen ist. Schon der zweite Song Lunch wird Katy Perrys nervtötenden und eigentlich absurd prüde-braven Ohrwurm “I kissed a girl and I liked it” endlich ersetzten, “I could eat that girl for lunch” ist ja wohl definitiv die coolere und selbstbewusstere Zeile. In Chihiro singt sie (genau wie in ilomilo auf WWAFAWDWG?) eine wundervolle Hommage an die Kunst, mit der sie sich in (oder seit) ihrer Kindheit identifizieren konnte. Und mit Blue erblickt nun auch ein Song, der bisher nur als Demo-bootleg mehr oder weniger öffentlich war, das offizielle Licht der Welt und beschließt das wunderbar kurze 10-Tracks-Album (43 Minuten, die perfekte Vinyllänge). Doch wie Pink Floyd in The Wall hinterlässt sie uns kurz vor dem letzten Takt noch eine leise letzte Botschaft, die aber nicht wie “Isn’t this— // —where we came in?” Ende und Anfang verbindet und die Platte zu einem ewigen albtraumhaften Kreis schließt, sondern die Frage stellt, die wir uns alle stellen und die Hoffnung auf eine traumhafte Zukunft macht: “But when can I hear the next one?”
Und @literaryhub hat die Entstehung dieses letters treffend illustriert: