Seit der Himmel über Berlin endlich wieder Raum lässt für einige Sonnenstrahlen am Morgen, entwickelt sich bei mir eine neue Routine mit Potential zur Pflicht. Noch vor dem ersten Kaffee und dem Aufschlagen der Zeitung begebe ich mich auf das harte (Kopfstein-)Pflaster Charlottenburgs, ausgerüstet nur mit meiner Kamera und einer Schachtel Vogue, gelegentlich noch mit einem Buch unter dem Arm. Nicht einmal – und das kostet mich wirklich Überwindung, denn vor nichts habe ich mehr Angst als vor den Gedanken, die in der Stille mein Kleinhirn schwemmen – nein, sogar meine Kopfhörer bleiben daheim. Obwohl, oder gerade weil ich in einer trostlosen Kleinstadt zwischen Industriegelände und schlammigen Feldern aufwuchs, fand ich lange keinen rechten Zugang zur Natur, die mich umgibt; immer träumte ich mich ans Meer oder in die Wüste und übersah (vor Langeweile) das Getümmel im Vorgarten. Doch seit einigen Jahren ändert sich das und nun freut es mich umso mehr, morgens dem Zwitschern im Innenhof, den Krähen auf der Straße, den Enten auf dem See zu lauschen. Ich bin bald 20, mit dem Alter wird man ja bekanntlich immer wunderlicher.
Frühlingsgefühle
komm endlich her und bring mir wärme damit die ersten knospen knacken können
Taubenträume
Die Tauben am Hauptbahnhof haben es verstanden. Dass Träume nur im Kleinen beglücken. Dass die Welt gar nicht so groß ist, wie alle immer behaupten. Dass das Beste am schnellsten verfliegt. Dass, was man begehrt, oft nach Pisse riecht. Dass Zeitungen im Nest eine feine Sache sind. Dass die Stadt der schönste Ort sein kann. Dass stehende Rolltreppen Unglück bringen. So denke ich, während ich auf meinen Zug warte, ohne Sinn vor mich hin.
Öl
Die Wände des Zimmers sind verschmiert. Mit starren Augen sieht sie auf, Öl tropft von der Decke, tropft auf ihre fleckige Haut. Sie kann sich nicht bewegen, ihre Arme gehören nicht ihr; nichts spürt sie mehr. Nicht die Kälte des Bodens unter ihren Schulterblättern, nicht das eiserne Stechen in ihren Zehen, nicht das Pochen des Blutes unter ihren an Daumen und Zeigefinger gesplitterten Fingernägeln, nichts.
Gerade eben stand sie noch mit beiden Füßen im Sand und das trübe Wasser umspülte in wabernden Gesten ihre Knöchel, nackt. Stand sie da, unterdrückte halbherzig den Wunsch zu springen, zu schwimmen durch die Brühe, sich zu wälzen im Schlamm. Sie träumte davon, dachte, das machte es leichter, und wusste doch um die Lüge. So blieb sie stehen, sprang nicht, schwamm nicht, tat nichts. Jetzt fühlt sie nichts. Spürt nicht mal sich.
Nach Krämpfen und ewig verronnener Zeit schafft sie es, die oberen Wirbel aus der Lähmung zu lösen, Bandscheiben knirschen mechanisch und zäh. Der Beton wärmt, sein langsames Grau/fast Schwarz gibt ihr Ruhe, ordnet ihre Gedanken in magnetfeldartigen Mustern. Die Oberfläche des Wasser in dem kleinen Glas auf dem Boden bedeutet Schwingung, in konzentrischen Kreisen findet es zu sich, überlappt, überdehnt, überschwappt sich. Sie war es wohl, doch wann sie es dort hinstellte, neben sich, hat sie vergessen, wie vieles. Das schlichte Bett ohne Laken hinter ihr; die kalt gerötete bleiche Haut ihres Bauchs, die blau-lila Adern und Flecken darunter. Die mehrfache Brechung des Lichts durch Glas und Wasser berührt sie, und sie weint, bis eine Träne Öl ihre Wange trifft und ihre Muskeln lähmt und ihr die Lippen verklebt, und ihr Blick wieder bricht und ganz starr wird.
»Saturday was rotten to the core / Whispering to Jodie on the floor / Terrified of turning twenty-four, wet-eyed paranoid«
Arlo Parks
Der Becher
Meine Zahnbürste will ich nicht in den Becher zu deiner stellen. Noch soll sie liegen in der nassen Plastikschale. Denn wenn ich sie in den Becher zu deiner stellte, fühlte ich mich nur allzu heimisch in deinem Haus und der Alltag bräche uns das Genick.
Monsters and Critics
Nun, nach all den top-aktuellen Bestseller-Empfehlungen in den letzten Ausgaben wird es wohl endlich Zeit für zwei Klassiker, oder jedenfalls für mich bisher verborgen gelegene Schätzchen.
Zufällig entdeckte ich letztens in einem neu eröffneten Kreuzberger Antiquariat Françoise Sagans melancholischen und bisweilen urkomischen Roman Bonjour Tristesse, mit dem die damals 18-jährige Pariser Autorin vor 70 Jahren einen Welterfolg landete, und der mir als Ärzte-Fan natürlich zumindest namentlich schon gut bekannt (und melodisch fest assoziiert) war. Gut 160 Seiten lang nimmt uns die Ich-Erzählerin Cécile, gemeinsam mit ihrem Vater und dessen Freundin(nen) mit auf einen dreimonatigen Sommerurlaub an der Côte d’Azur, eine traumhafte Gegend, in der es ihr bald so langweilig wird, dass sie sich ihr eigenes Drehbuch schreibt und darüber vergisst, dass ihre Figuren echte Menschen mit echten Gefühlen sind. Herrlich dramatisch und immer mit dem Gefühl, heißen Strandsand aus den Seiten fallen zu spüren: Genau das Richtige für Anfang März. (— Besonders charmant zu lesen in der deutschen Erstausgabe (1955), mit dickem Papier, breitem Rand und lebendigem Schriftsatz.)
Das zweite Buch lernte ich vor kurzem in meinem Studium kennen und hat ebenfalls mit Kreuzberg zu tun (zugegeben, sehr viel mehr als Bonjour Tristesse), denn Aras Ören erzählt in seiner Berliner Trilogie (1973/74/80, Neuauflage 2019) von einigen der türkischen “Gastarbeiter*innen”, die in den 1960er und 1970er Jahren nach Deutschland kamen. Er beleuchtet den Rassismus und Klassismus der alten Bundesrepublik und noch so viel mehr, indem er sein narratives Scheinwerferlicht von Figur zu Figur wandern und springen lässt und trotzdem ihren Leben und Geschichten Raum gibt. Seine kluge, ehrliche Sprache verflechtet er in einer poetisch dichten Form irgendwo zwischen Lyrik und Prosa, die er “Poem” nennt. Ein sehr interessantes, berührendes, unbedingt lesenswertes Werk.
Und @lifesubstancee hat folgendes gepostet:
Schön, dass Leipzig in dieser Ausgabe seine Sonnenstrahlen zeigen durfte ☀️