Die ersten Herzchen und Genitalien, mit klammen Handschuhfingern in die Schneedecken der parkenden Autos und Mülleimer graviert, schmückten schon das wolkenverhangene Stadtbild und erwärmten die vereisten Seelen der Menschen. Nun sind sie wieder geschmolzen und im Regenmatsch auf dem Asphalt versunken. Wunderschön. Oder so. Für mich als Alles-bloß-nicht-Winter-Menschen sind die nasskalten Flocken des Dezembers jedes Jahr Grund zu größter Empörung und allgegenwärtigem Missmut, die sich seit Monaten androhenden Fichtenzweige und goldglänzenden Plastikverbrechen übertrumpfen wieder einmal zielsicher den bisherigen Kitsch-Höhepunkt des Jahres (Barbenheimer) und mit dem Geschenkestress kommt die Überzuckerung. Aber was soll's, machen wir also das beste daraus.
Graustufen
grau in meinem kopf dröhnt und hämmert ächzt und stöhnt atme aus und grauer rauch steigt aus mir raus empor der himmel grau alles ton in ton monochrom grau fällt auf die stadt auf grauen beton auf grauen asphalt aufgewirbelt von den schritten grauer eingefall’ner leute die menschen grau alles ton in ton monoton
Szene (Welk)
blätter sie fallen auf granit feuchte herbstlaubhaufen wie berge von tränennassen taschentüchern
Hochgeschwindigkeit
Ein Mensch, allein im Schnellzug, im Aufbruch in die alte Stadt im Norden des Landes, vertieft in die Tageszeitung, die hastig am Bahnhof nebst coffee to go und trockenem Gebäck zu erwerben angeboten wurde. Die Haare wild zerzaust, etwas fettig, mattes schwarz. Auch der coffee schwarz wie immer, wohl eine schlechte Angewohnheit, lasterlich gleichsam der eiligen, ärztlich und ratschläglich verbotenen Zigaretten, die immerzu in den Leeren der Taschen und Beutelchen verstaut werden, die mensch sich nicht nehmen lassen will; wozu sonst leben, wenn nicht zum Spaß. Nach abgeschlossener, jedenfalls unterbrochener Lektüre des Feuilletons sieht mensch auf und auf: Den coffee, der einen braunen Ring auf dem Holzimitat des Sitzlehnenklapptischchens gebildet hat. Die Kinder gegenüber des Gangs, friedvoll schlafend und schnarchend. Den Schmutz am Fenster, drei milchige Flecken in nahezu perfekter Geometrie, durch einen dunklen geraden Strich getrennt. Den Politikteil, der seit Wochen von Unheil kündet. Nervös, wohl vom Koffein, das rechte Bein auf und ab wippend, im Handgepäck suchend nach Sinn. Später sieht mensch Blick und Finger rastlos gesenkt auf den Tasten des notebook ruhend, letzte Erledigungen geschäftlicher Natur wohl, oder zu Studienzwecken, oder ganz im Zeichen der Kunst; keine Zeile des Geschriebenen wird offenbar, offenbar nur sein Entstehen, Verschwinden, Auslöschen, Ersetzen. Körperlosen Geburten folgen trauerlose Beisätzungen im Sekundentakt, ohne mit der Wimper zu zucken. Auf seiner Bahn rast der Zug über Felder, unbeachtet flirren Teiche und Bäume an seinen Fenstern vorbei, flattern Schwärme schwarzer Vögel aufgeregt durcheinander. Nächster Halt, und der Nebenplatz, der bisher zur sichtlichen Zufriedenheit leer geblieben war, wird schließlich doch, mit einigem Gerumpel und Getöse und viel Aufhebens der umhersitzenden Reisenden, und nicht zuletzt dem geräuschlosen Klappen des notebook, besetzt. Nach alter Schule wird sich einander bekannt gemacht, routiniert den interessanten Fragen und ehrlichen Antworten ausgewichen, höflich-spießiger Slalom zum Totschlagen der Zeit, in der sie jeweils leise der Zeit des Einandernichtkennens nachtrauern. Unter heimlichem Zuhören der Sitznachbar*innen werden gleichvergessene Ereignisse und nichtderredewerte Erfolge preisgegeben, notgeboren aus beklemmtem Schweigen, fast ärgerlich, wo mensch doch soeben so gut hat schreiben können. Doch dann, nach abgeschlossener Nonkonversation und weiteren Minuten der angestrengten Stille, die nur von eisigen Blicken, leer wie Taschen und Beutelchen, durchschnitten wurde, driften sie endlich ab ins Wesentliche, und klären mit rationaler Emotionalität, was zu klären so bitter nötig war, und Versöhnung und Beilegung bahnen sich an, zögerlich tastend, vorsichtig, gar angstvoll?, gesprochen, und der Schnellzug gelangt an sein Ziel.
Es überrascht mich einigermaßen, das zu schreiben, doch: Zur Zeit lohnt sich ein Besuch des Berliner Hauptbahnhofs. Naja, jedenfalls des Plateaus etwas abseits des Washingtonplatzes. Dort strebt nämlich seit April dieses Jahres die Plastik Vertical Highways von Bettina Pousttchi gen Himmel. Sie ist nicht die erste Arbeit, für die die Berliner Künstlerin Leitplankenfragmente biegt, schweißt und lackiert — eine ähnliche, wenn auch deutlich kleinere Skulptur der Reihe ist seit 2019 in der Dresdner Skulpturensammlung ausgestellt — doch ist die gewaltige Höhe von über sechs Metern neu. Schon in Dresden faszinierte mich die scheinbare Fragilität des Stahls, das ungewohnte Material an sich und seine Zweckentfremdung und irritierende Neudefinition, die mich jedes Mal an AC/DC’s Highway to Hell denken lassen (ich bin mir der Plumpheit dieser Assoziation durchaus bewusst, schäme mich ihrer aber keineswegs). Nun freue ich mich immer, dass ich das Warten auf den verspäteten ICE mit solchem Kunstgenuss verschönern kann und hoffe, dass die (DB-)roten Leitplanken viele Jahre das Berliner Stadtbild prägen werden — so, wie es zuletzt Isa Genzkens riesige Rose (seit Ende November ihr Vollmond) vor der Neuen Nationalgalerie tat.
Illusion
Für L.
dichte schwaden vernebeln deinen blick verdunkeln deine gedanken weiß und flüchtig der rauch, er strebt nach chaos ebenso du siehst nicht hell wähnst dich sicher fällst und fällst hältst dich fest an tabakgasen hüllst dich ein, weich und süßlich die illusion ich bin hier und hör dir zu atme den rauch für dich ein
In-Yun (인연)
als wir uns begegneten spürten wir sie wie ein silbernes band zwischen uns vor hunderten jahren ein vogel und der ast, auf dem er saß und morgen ein wal, mit einer einzigen pocke sag mir nur, erkennst du sie auch? die achttausend schichten des in-yun
Glänzend schwarz
Ich fühle mich dieser Tage bei meinen alltäglich gewordenen Fußmärschen durch Berlin zunehmend nach New York City versetzt. Was andere sicher übel aufstoßen lässt, zaubert mir müde Lächeln ins kältegerötete Gesicht. Überall begegnen sie mir, auf der Straße, im Hörsaal, in den Ecken der Gassen, in der U-Bahn, im Club, im Lidl: die riesigen schwarzen Müllbeutel. Nur sind in ihnen weniger verwesende Ratten und Leichenteile zu vermuten als (ja, bei genauerer Betrachtung bewegen sie sich sogar) lebende Menschen! Statt der festen Knoten tragen sie Kapuzen, haben Ärmel und keinen Boden — natürlich! Es sind High Shine Puffer Jackets! Der Trend und Antitrend zur instagrammable Selbstdarstellung, die in den FAZ-Feuilletons der letzten Dekade wohl bereits hinreichend besprochen wurden. Sie sind auffällig unauffällig, ihre Träger*innen scheinen in ihrer hyperoversize versinken zu wollen wie in einem Müllschlucker und blenden ihre Umgebung mit ihrer grellen Selbstreflexion. Oder steht hinter der Lust, sich in Abfallsäcke zu stopfen vielmehr ein frappierend geringes Selbstwertgefühl? Oder müssen wir es doch als Gesellschaftskritik verstehen: Sie halten uns, der Konsum- und Wegwerfgesellschaft, den wortwörtlichen Spiegel vor? Für letzteres spricht jedenfalls, dass sie von Marken wie Calvin Klein und Primark massenweise produziert werden, ganz sicher unter Wahrung der Menschenrechte. Wie auch immer, es ist mir ein inneres Blumenpflücken, jedes Jahr aufs neue, und wohl das Schönste am Winter.
Sogar boygenius haben es die glänzend schwarzen Schmuckstücke angetan.
Szene (Bahnhof)
das ältere paar sich still und herzvoll in der u-bahn-tür küssend umarmend die zurückbleiben, bitte-ansage geflissentlich überhörend
»Ich finde […], dass man Menschen am besten einfach machen lässt, statt sie übermäßig zu inszenieren. Menschen tun manchmal die erstaunlichsten Dinge — viel interessantere, als ich mir sie je ausdenken könnte.«
Mary Ellen Mark
Monsters and critics
Das oben stehende Zitat stammt von der US-amerikanischen Fotografin und Fotojournalistin Mary Ellen Mark, eine breite Auswahl ihres Werks ist derzeit in einer Retrospektive im c/o Berlin zu sehen. Ihre berührenden Portraits, in denen sie den Menschen sehr respektvoll begegnet, geben unter anderem Einblick hinter die verschlossenen Türen einer Psychiatrie, in die Welt der Prostituierten der Falk Land Road in Mumbai oder dem größten Zwillingsfestival der USA, den Twins Days in, haha, Twinsburg, Ohio. Definitiv einen (oder zwei) Besuche wert!
Spätestens seit Sophie Passmanns (äußerst lesenswertem) Buch ist der Begriff “pick me girl” auch außerhalb der subreddits — soll heißen: mir — geläufig. Wer aber lieber die Buchverfilmung sehen will, kann das in gewisser Weise schon jetzt, denn mit Cat Person ist Mitte November ein schockierend-verunsichernder Thriller(?) in den Kinos gestartet. Basierend auf der 2017 im New Yorker erschienenen gleichnamigen Kurzgeschichte von Kristen Roupenian zeigt der Film den Verlauf einer absurden Beziehung, die zunächst als etwas unbeholfener Flirt beginnt, sich jedoch schnell in eine abgefuckte stalker story verwandelt. Oder nicht? Der beste Soundtrack des Jahres (wo läuft bitte sonst Wet Leg im uber?) trifft auf die unerträglichste Sexszene mindestens seit Oppenheimer und lässt die Angsttränen laufen. Nichts für schwache Nerven, aber unbedingt sehenswert!
Und der New Yorker-Cartoonist Jason Adam Katzenstein hat folgendes geposted:
Als Winterhassende, (nichtglänzender) Müllsack tragende Person die im Winter farbenblind wird: nahegehend und angenehm warm
Wohl getan! Ein Schummer treibend neuer Wortlinien. Fügt mir dankend ein Lächeln schnellen Lebens zu. Jederzeit Achtsam der Momente, die von sich aus gesehen werden wollen. Ich bin auf dem Weg Richtung der Elbstätte, die wir hinter uns ließen. Nesö, Rdbl, Drde. Bin nicht wehmütig. Bin froh, dass wir natürlich uns dem verwegenen Fluss der Großstädte hingegeben haben. Ohne zu Zucken-jetzt Teil davon.